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Arbeitsmarktpolitik
im Global Village

Roman Obrovski



Die Vernetzung der Welt (1) hat vor rund 500 Jahren begonnen, verläuft derzeit enorm beschleunigt und verunsichert viele Menschen. Panikmacher und politische Hasardeure haben Hochsaison. Der folgende Text wurde im Frühjahr 1996, noch vor dem Ausbruch der Diskussion zur "Globalisierung" in Österreich geschrieben. Er ist als Beitrag zum Buch "Europa ohne Arbeit?" (Hrsg.Walter Slupetzky) bei Kohlhammer, Stuttgart, erschienen. (27. 4. 1997)


 

Das Global Village kennt keine autarken Regionen und der weltweite Wettbewerb respektiert keine Oasen des Wohlstands. Er setzt Kapitaleigner, Beschäftigte, vor allem aber Arbeitsuchende beständig unter Druck. Zur Annahme dieser Herausforderung gibt es keine Alternative. Nur die Antworten sind verschieden.

Der archimedische Punkt

Ein Wirtschaftsforscher, der noch heute das Geschehen auf dem Arbeitsmarkt kommentiert, antwortete Mitte der siebziger Jahre auf die Frage, ob Vollbeschäftigung ein Dauerzustand sein könne, kategorisch: "Die Beschäftigung haben wir im Griff". Die Höhe der Arbeitslosigkeit könne je nach politischer Präferenz "dosiert" werden. Zur Erhaltung einer optimalen Beschäftigungslage müsse der Staat bei sinkender Nachfrage nur "Gas geben", bei überhitzter Nachfrage hingegen "bremsen".

Heute klingt diese Mechanik naiv, damals aber schien nicht nur die Behandlung der Arbeitslosigkeit zu einer einfachen Sache geworden zu sein. Im Schatten der Supermächte und ihrer Raketen genossen die Europäer die längste Phase der Prosperität ihrer Geschichte. Mit dem materiellen Wohlstand ging es beständig aufwärts - warum sollten soziale Verhältnisse nicht ebenso perfektionsfähig sein? Manchen schien eine Gesellschaft ohne Armut, ohne Krieg, ohne Ausbeutung, ohne Gefängnisse und ohne Arbeitslosigkeit zum Greifen nahe. Die Verheißungen des neunzehnten Jahrhunderts wurden wiederentdeckt. Marx und Engels avancierten zu Gurus einer Generation, die man gerade noch als die "skeptische" beschrieben und damit gründlich verkannt hatte.

Längst ist Ernüchterung eingekehrt: Das Paradies auf Erden bleibt ein Traum und die Vollbeschäftigung jener Jahre war nicht das Resultat einer genialen Beschäftigungspolitik. Zwar wähnten die Akteure, über den archimedischen Punkt zu verfügen, von dem Arbeitslosigkeit auf Dauer auszuhebeln war. Im Rückblick aber erscheint die damalige Beschäftigungslage als ein Geschenk glücklicher Umstände, als heiteres Intermezzo in der dramatischen Geschichte der Industriegesellschaft.

Irritation

Seit 1980 steigt die Arbeitslosigkeit mit geringen Schwankungen auch in Österreich an. Erreicht ein Meßwert eine neue Marke ("erstmals seit.."), schlagen die Kommentatoren Alarm. Das weitere Geschehen ist mittlerweile vorhersagbar und verläuft in vier Phasen:

1. Hektik bricht aus. Gereizt fordern Exponenten aus Politik und Wirtschaft einander auf, endlich aktiv zu werden. Fachleute tadeln, daß dies und jenes schon längst hätte geschehen müssen. Mobiler und arbeitsamer, flexibler und bildungsfreudiger müssen wir werden, sagen viele. Andere mahnen zur Bescheidenheit und fordern Solidarität.

2. Die Regierung wird aktiv. Die Verantwortlichen kündigen eine "Qualifikations-", "Beschäftigungs-" oder "Investitionsoffensive" an. Parolen, wie das "Bündnis für Arbeit" oder ein "Beschäftigungspakt", geistern durch die Gazetten. Militante Metaphern signalisieren Tatkraft, beherrschen das Cover und drängen die Besorgnis zurück in den Kommentar.

3. Die Arbeitsmarktdienste werden aufgescheucht. Es muß endlich rascher vermittelt und marktgerecht qualifiziert werden. Vor allem sind Mißbräuche konsequenter zu ahnden. In der Eile, mit der einer aufgewühlten Öffentlichkeit Kompetenz bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit bewiesen werden muß, stehen andere Instrumente gar nicht zur Verfügung. Bei Arbeitsmarktdiensten weiß man wenigstens wie und wo und kann rasch was Konkretes vorweisen.

4. Das Thema wird gewechselt. Die Kommentatoren gewöhnen sich an die Datenlage. Sie akzeptieren die höher gewordene Arbeitslosigkeit und wenden sich anderen Problemen zu. Die Arbeitslosigkeit steigt weiter, bis eine neue historische Marke...

Gerät die Arbeitslosigkeit aus den Fugen? Erschöpft Beschäftigungspolitik sich in Ritualen? Was macht den Anstieg der Arbeitslosigkeit so unaufhaltsam?

Der Hase und der Igel

Nach 1945 avancierte das Wachstum in Europa zum Problemlöser Nummer Eins in der Beschäftigungspolitik: Wenn Arbeitsplätze verloren gehen, dank Wachstum aber anderswo neu entstehen, genügen arbeitsmarktpolitische Instrumente, um Arbeitslosigkeit nicht unerträglich werden zu lassen. Eine effektive Beratung, Vermittlung und Re-Qualifizierung ist mit ihrem Latein erst am Ende, wenn die Beschäftigung stagniert oder schrumpft, während das Arbeitskräfteangebot weiter ansteigt.

Zu Beginn der achtziger Jahre nahm der beschäftigungspolitische Handlungsbedarf zu. Der Versuch, gefährdete Arbeitsplätze in der Industrie zu mumifizieren, wurde lange nicht aufgegeben. Als fatalen Ersatz forcierte der Gesetzgeber im Anschluß die Frühverrentung. Heute wird diese Form der Arbeitszeitverkürzung nicht nur von Kritikern der ersten Stunde als luxuriös und sozial brisant eingestuft.

In Österreich kompensierte der expandierende Dienstleistungssektor bis in die jüngste Zeit die schrumpfenden Arbeitsplätze in der Produktion und hob das Beschäftigungswachstum sogar darüber hinaus. Das Arbeitsmarktservice konnte diesen Strukturwandel mit traditionellen und innovativen Instrumenten effektiv unterstützen: Arbeitsstiftungen, gemeinnützige Personalbereitstellung oder die Unterstützung von Betriebsgründern etwa haben sich als erfolgreiche, neue Ansätze erwiesen.

Zu den bisherigen Problemen aber sind neue getreten:

Der Staatshaushalt ist angespannt und wird saniert. Das energische Sparen im civil service, auf dem Bildungs- und Gesundheitssektor und bei öffentlichen Investitionen dämpft die Nachfrage. Zugleich zwingt der globale Wettbewerb den österreichischen Unternehmen mehr denn je Kostensenkungsprogramme auf.

Das Resultat: Auftragsrückgänge, Lean-management und re-engineering lassen die Beschäftigung in der Industrie weiter sinken und in anderen Branchen kaum wachsen. "Ich bin schon da!" ruft die Produktivität, wenn die Nachfrage angehechelt kommt. Auf der Strecke bleiben Arbeitsplätze.

Kein Mangel an Ideen

Auf die Industrie, auf das Wirtschaftswachstum und auf öffentliche Investitionen ist in der Beschäftigungspolitik kein Verlaß mehr. Die neuen Verhältnisse zwingen zum Denken in Alternativen. Mangel an Ideen herrscht dabei keineswegs. Sozialforscher, Interessenvertreter und sonstige Experten bieten tagtäglich Lösungen an: in Artikeln, in Interviews, in Diskussionen. Viele Vorschläge sind seit langem bekannt:

Die Arbeitskosten senken

Die Arbeit neu verteilen

Die Arbeitszeit flexibilisieren

Mehr Kündigungsschutz

Weniger Kündigungsschutz

Das Arbeitslosengeld kürzen

Die Forschung forcieren

Die Zumutbarkeit verschärfen

Betriebsgründungen erleichtern

Die Einwanderung stoppen

Lebenslang lernen

Risikokapital bilden

In die Infrastruktur investieren...

Das Hauptproblem der Beschäftigungspolitik besteht also keineswegs darin, daß niemand wüßte, wie Arbeitslosigkeit zu bekämpfen sei. Keinem der angeführten Vorschläge sind Beschäftigungseffekte abzusprechen. Nur die Vorstellung, Arbeitslosigkeit sei "aus einem Punkte zu kurieren" hat an Überzeugungskraft verloren. Erwartet wird vielmehr, daß die Regierung aus der Fülle von Optionen ein Maßnahmenbündel schnürt, das mehrheitsfähig und umsetzbar ist. Die Frage ist: Warum geschieht nicht, was alle scheinbar wollen?

Die wenig überraschende Ursache: es klemmt bei der Verteilung der Lasten. Gehen wir einigen Vorschlägen nach und beginnen wir bei den Arbeitgebern:

Maßvolle Lohnrunden im Interesse von mehr Beschäftigung fordern die Arbeitgeber seit je. Seit einigen Jahren wünschen sie auch verstärkt flexiblere Arbeitszeiten, das heißt, die Dehnung des Rahmens für die tägliche oder wöchentliche Arbeitszeit, die Abschaffung von Überstundenzuschlägen und die Einbeziehung von Samstagen, Sonn- und Feiertagen in die Regelarbeitszeit.

Ergänzt man diese Dispositionswünsche an die Arbeitskraft durch das Verlangen besorgter Sozialforscher nach lebenslangem Lernen, nach job-sharing usw., dann läßt sich der ideale Mitarbeiter der Zukunft etwa wie folgt beschreiben:

Er ist rund um die Uhr einsetzbar

Er wird auf Abruf tätig (und nur dann kostenwirksam)

Er wechselt in immer kürzeren Abständen Arbeitsort, Arbeitgeber, Arbeitsinhalte und -methoden

Er steigt bei Bedarf von Voll- auf Teilzeit um und umgekehrt

Er läßt sich den Produktivitätszuwachs durch Freizeit abgelten

Er verfügt exakt über die aktuell nachgefragte Qualifikation

die er sich auf eigene Kosten oder

mit Unterstützung der öffentlichen Hand

in weiser Voraussicht angeeignet hat

Dieses Leitbild löst bei den Adressaten nur schwachen Enthusiasmus aus. Zahlreichen Arbeitnehmern erscheint dagegen viel plausibler, daß zur Sicherung ihrer Beschäftigung die Einwanderung gehemmt, der Kündigungsschutz verstärkt und die Finanzierung öffentlicher Aufträge durch eine höhere Besteuerung der Reichen gesichert werden müßte.

Jeder Vorschlag zur Verringerung von Arbeitslosigkeit erzeugt ein anderes Muster an Zustimmung und Ablehnung bei den Arbeitgebern, den Arbeitnehmern und bei den Arbeitslosen. Maßgeblich dabei ist die unterschiedliche Verteilung der Lasten, die mit der Realisierung verbunden sind. Jeder weiß, welche Lasten der andere zu tragen hätte, freiwillig aber nimmt kaum wer Lasten auf, die ihm zugemutet werden. Ein Maßnahmenbündel ohne Verlierer läßt sich in der Beschäftigungspolitik jedoch ebensowenig schnüren wie in der Budgetpolitik.

Das Resultat: Im Powerplay der Kapitaleigner und der Beschäftigten verlieren meist - die Arbeitslosen. Anders formuliert: Trotz vieler Anläufe kommt die nationale Beschäftigungspolitik seit Jahren über den Einsatz arbeitsmarktpolitischer Instrumente kaum hinaus und erschöpft sich in zunehmend rituellen "Offensiven". Weitergehende Maßnahmen sind für Arbeitgeber und Beschäftigte mit Belastungen verbunden, die beide Seiten als schwer annehmbar empfinden. Sie unterbleiben daher oder sind nur bei größtem Widerstreben und entsprechend langsam umzusetzen.

Globalisierung oder Festung Europa?

Nach dem Abbruch der strukturkonservierenden Beschäftigungspolitik Mitte der achtziger Jahre wurde die Arbeitsmarktpolitik in Österreich mit Erwartungen überfrachtet. Sie hat sich, vergleicht man ihre Effektivität und Effizienz international, bravourös geschlagen. Nun aber

reichen ihre Instrumente offenkundig nicht mehr, um dem Anstieg der Arbeitslosigkeit wirksam entgegenzutreten. Das Arbeitsmarktservice sorgt dafür, daß Arbeitslosigkeit keinen Tag länger dauert, als der Markt es erzwingt, Arbeitsplätze aber schafft es keine.

Die Beschäftigungspolitik ist erneut gefordert. Wer aber kann sich dem Wunsch nach Wiederherstellung von Vollbeschäftigung überhaupt mit Erfolg annehmen?

Noch ist der Nationalstaat Hauptadressat dieser Forderung. Seine Situation ist prekär, weil seine Mittel unzureichend geworden sind. Nationale "Beschäftigungsoffensiven" gehen zunehmend ins Leere. Mit fortschreitender Globalisierung entziehen sich immer mehr Elemente des Beschäftigungssystems der Steuerung des Staates. Die nicht marktgerechte Konservierung von Arbeitsplätzen und die Forcierung der Frühpension waren defensive Aktionen, die den nationalen Arbeitsmarkt nur in Form von Pyrrhus-Siegen entlastet haben und mit Recht aus dem beschäftigungspolitischen Instrumentarium entfernt worden sind.

Manche glauben, daß die geschwächte nationalstaatliche Steuerungsfunktion in der Beschäftigungspolitik von der EU kompensiert werden sollte. Europa, meinen sie, könnte zu einer Festung gegen Importe aus dem Rest der Welt ausgebaut werden und sich gegen Zuwanderung abschotten. Unternehmen, die ihre Betriebsstätten aus Kostengründen in ärmere Ländern verlagern, müßten ihre Produkte auch dort verkaufen oder eine ausgefuchste Importsperre überwinden.

Das klingt nur aufs erste plausibel. In der Praxis spricht wenig für die Sinnhaftigkeit dieser Option. Einer bloß binnenmarktzentrierten Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik stehen nicht nur die Einzelinteressen bedeutender EU-Länder entgegen, sondern auch die Interessen aller transnational agierenden Menschen und Unternehmen, deren Marktmacht täglich wächst und die politisch an Gewicht gewinnen.

Vor allem aber wäre es kurzsichtig, Europa zum Bollwerk zu machen. Immer mehr Probleme rufen nach transnationalen Lösungen. Aber hat uns nicht erst die Globalisierung diese Probleme eingebrockt? Ist die aus dem Ruder der Regierungen laufende Beschäftigung nicht ein schlagendes Beispiel für die destruktiven Effekte der Globalisierung?

Kritik darf nicht in die Irre führen. Natürlich sind manche Beschäftigungsprobleme vor Ort auch Resultate der Globalisierung. Aber wer deshalb mit dem Protektionismus liebäugelt, sollte sich klarmachen, daß Abschottung eine häßliche Kehrseite hat:

Konkret: Ein oberösterreichisches Unternehmen etwa, das hochspezialisierte Feuerwehrfahrzeuge produziert, kann Arbeitsplätze im bisherigen Umfang nur halten, wenn seine Produkte auch weiterhin in Asien verkauft werden. Unter einem protektionistischen Regime müßte das Unternehmen mit Retorsionsmaßnahmen in den Abnahmeländern rechnen. Sein Absatz ginge rapide zurück, Arbeitsplätze würden abgebaut. Das hochentwickelte Firmen-Know-how ließe sich nicht aufrecht halten und ein potenter Beschäftiger und Devisenbringer fiele rasch zurück in die ökonomische Bedeutungslosigkeit.

Erfolgreiche Abschottung kann man in Albanien und Nordkorea studieren.

Nostalgie nach staatlicher Beschäftigungsgarantie und trotziger Protektionismus werden Europa nicht helfen, die neue Arbeitslosigkeit zu bekämpfen. Die globalisierte Arbeitswelt selbst birgt alle Ansätze zur Lösung der von ihr induzierten Probleme (2). Suchen wir sie.

Beschäftigungspolitische Ansätze

Wenn ein Verfahren erst gefunden werden muß, kann man noch keine Rezepte schreiben. Man stellt Überlegungen an und experimentiert. Erst der Erfolg macht ein Verfahren rezeptreif. Nicht Wissen, sondern Hypothesen bilden daher die Basis der folgenden Ausführungen. Sie haben den Charakter von Erwartungen und Maximen, nicht von Rezepten.

1. Erwartungen

Vom Nationalstaat und von supranationalen Instanzen wünscht ein regional tätiger Arbeitsmarkt-Praktiker sich, daß sie

1.1. die Weiterbildung unterstützen

Der beschleunigte Produktzyklus erfordert die laufende Transformation der Arbeitskraft. Lebenslange berufliche Weiterbildung ist zu einer umfangreichen und permanenten Aufgabe geworden. Sie bedarf angemessener budgetärer Vorsorge und ist wichtiger als die traditionelle, feudal-gönnerhafte Subventionspolitik für einzelne Firmen oder Wirtschaftszweige.

1.2. Klein- und Mittelbetriebe fördern

Ungeachtet ihrer strategischen Bedeutung ist die nationale Industrie kein beschäftigungspolitisches Hoffnungsgebiet. Träger des Beschäftigungswachstums sind Klein- und Mittelbetriebe. Aus beschäftigungspolitischer Perspektive ist deren Entfaltung zu fördern.

1.3. ins 21. Jahrhundert investieren

Die Phantasie der Verantwortungsträger sollte bei beschäftigungswirksamen Investitionen über Kraftwerke, Tunnels und Autobahnen hinauskommen. Leistungsstarke Datennetze, flexiblere und ökologisch verträgliche Verkehrssysteme erscheinen für das Leben im 21. Jahrhundert auch nicht unwichtig.

1.4. die Sozialpartnerschaft hegen

Die Sozialpartnerschaft ist eine weise, jedoch asymmetrische Einrichtung: Kapitaleigner und Arbeitgeber sitzen meist auf dem längeren Ast. Das kann zu einer Politik der Stärke verführen und die Partnerschaft gefährden. Zur Hege der Sozialpartnerschaft könnte der Staat beitragen. Wenn zum Beispiel beschäftigte Arbeitnehmer zugunsten von zusätzlichen Arbeitsplätzen Einschränkungen in Kauf nehmen ("Beschäftigungsbündnis"), müßten staatliche Einrichtungen sicherstellen, daß die so gewonnenen Ressourcen tatsächlich beschäftigungswirksam eingesetzt werden und nicht anderweitig versickern.

1.5. keine Destabilisierung zulassen

Die Ansicht, daß zusätzliche Arbeitsplätze in Europa vorderhand nur im Abtausch gegen Einkommenszuwächse und Einkommenseinbußen geschaffen werden können, scheint realistisch. Entscheidend ist, daß der Staat keine krassen sozialen Differenzen einreißen läßt. Versagt er bei dieser Aufgabe, drohen Verhältnisse, deren Dynamik politischer Führung leicht entgleitet.

1.6. keinen Arbeitsdienst einführen

Als Alternative zur schwierigen Wahrnehmung des sozialen Ausgleichs bieten sich auch immer wieder Vertreter einer "ordentlichen Beschäftigungspolitik" an. Sie halten von Arbeitsmarktpolitik wenig und vom Respekt gegen das Individuum nichts. Sie setzen auf Zwangsverpflichtung. Ihre Chancen steigen proportional zum Verlust der sozialen Balance.

1.7. regionale und lokale Initiativen nicht behindern

Die Globalisierung und die neuen Informations- und Kommunikationsmedien eröffnen den Akteuren auf regionaler, lokaler und betrieblicher Ebene völlig neue Optionen. Impulse für eine nachhaltige Verbesserung der Beschäftigungsentwicklung kommen nicht selten von unten. In mancher Hinsicht können Akteure vor Ort zu einer sozialverträglichen Beschäftigungslage mehr beitragen als zentrale Apparate.

2. Maximen

Die Maximen eines regional tätigen Arbeitsmarkt-Praktikers sind von begrenzter Reichweite. Er zerbricht sich weder den Kopf eines visionären Sozialingenieurs, noch den der Regierung. Er konzentriert sich auf den Marktflecken, den er in irgendeinem Viertel des Global Village mitbewirtschaftet.

2.1. Die Klagemauer überwinden

Die unerfreulichen Seiten des Wandels sind ausreichend beklagt: Arbeitslosigkeit, Arbeitsplatzunsicherheit, Flucht aus dem Arbeitsrecht, mangelhafte Absicherung bei Fährnissen etc. Bleib nicht erschüttert dabei stehen. Überwinde die Klagemauer.

2.2. Chancen wahrnehmen

Welche Vorteile sind der Auflösung traditioneller Arbeitsverhältnisse abzugewinnen? Wo liegen die Chancen für Frauen, für Jugendliche, für ältere und behinderte Personen, die im Aufbrechen überkommener Strukturen, in der Flexibilisierung, der Globalisierung und der Nutzung neuer Techniken verborgen sind? Ist Telearbeit nur eine moderne Form des Verlagswesens? Erschließt sie nicht einem Teil der Menschen mit Mobilitätseinschränkungen ein neues Beschäftigungsfeld? Verlieren Distanzen, Verkehrsprobleme, Öffnungszeiten von Kindergärten durch neue Formen der Leistungserbringung nicht ihren Hürdencharakter? - Welche Chancen zum Fortschritt in Freiheit verbergen sich im Wandel? Hilf mit, sie ausfindig zu machen! Hilf mit, sie zu erproben! Ist "Arbeitswelt-Design" eine Disziplin mit Zukunft?

2.3. Pioniere fördern

Im Global Village gibt es keine autarken Regionen. Dein Bezirk steht im Austausch mit der ganzen Welt. Trag dazu bei, daß die Menschen Deiner Region nicht die Risken bejammern, sondern die Chancen erkennen, die damit verbunden sind. Belebe die Phantasie Deiner Kunden, weite ihre Grenzen. Unterstütze die Pioniere, die Erfinder, die Entdecker...

2.4. Kommunizieren...

Die neuen Verhältnisse rufen nach neuen Ideen. Im Leerlauf sprüht die Phantasie keine Funken. Sie bedarf des Streits und der Freundschaft. Such den Widerspruch vor dem Konsens. Stell die Dinge zur Probe auf den Kopf. Schau über den Zaun. Keine Tabus.

2.5. ...aber auf Rhetorik verzichten

Der rituelle Abtausch von Reizformeln ("Arbeitszeitverkürzung", "Flexibilisierung", "Vollbeschäftigung", "Einwanderungsstop" etc) trägt zur Problemlösung nichts bei. Vergeude Deine Zeit nicht mit Rhetorikern und Pseudo-Diskussionen.

2.6. Aktivieren

Die neue Arbeitswelt fordert mehr Selbständigkeit und Eigenverantwortung als die alte Wohlstandsgesellschaft. Organisiere Arbeitsmarktservice nicht als Betreuung von Unmündigen, sondern als Hilfe zur Selbsthilfe. Respektiere Deine Kunden als eigenwillige Bürger. Missioniere sie nicht. Triff Vereinbarungen.

2.7. Selbsthilfe organisieren und unterstützen

Wenn Menschen sich zur Selbsthilfe zusammenschließen, erreichen sie oft mehr, als Hilfe von außen oder von "oben" ihnen je bieten könnte. Ist dieser Ansatz bei der Schaffung von Arbeit nicht viel zuwenig entwickelt? Rege an und unterstütze, daß gemeinnützige Beschäftigungsinitiativen nicht nebeneinander agieren, sondern ihre Produkte und Dienste aufeinander abstimmen, sie nach bestimmten intern vereinbarten Bedingungen austauschen und so ein begrenztes, aber autonomes Beschäftigungsniveau entwickeln. Vielleicht sind damit nachhaltigere Beschäftigungseffekte zu erzielen, als reglementierte "Offensiven" und "Aktionen" am laufenden Bande versprechen.

2.8. Keine Patentrezepte

Die Idee, das soziale Heil nach dem Muster des technischen Fortschritts zu konstruieren, hat ein zähes Leben. Diese neuzeitliche Illusion mit der mächtigen politischen Triebkraft hat noch jede Ernüchterung überlebt. Halte Distanz zu sozialen Erlösern und überlasse die Zampano-Pose anderen. Betreibe Dein Geschäft nicht als Taschenspieler, sondern als Forscher: Experimentiere!

2.9. Ziele, Fristen, Werte

Begnüge Dich nicht mit Absichten. Beschreibe gewollte Veränderungen in Zielen und setz Dir Fristen. Prüf Ziele, an denen Du mitwirken sollst, an Deinen Werten. Prüf Deine Werte an Zielen, mit denen Du konfrontiert wirst. Kann sein, daß Du Deine Werte differenzierst. Kann sein, daß Du nicht alles mitmachst.

2.10. Alle mitnehmen

Nicht alle Kunden sind zu jeder Zeit qualifiziert und robust genug für den Markt. Hilf ihnen, wieder Fuß zu fassen. Tritt dafür ein, daß niemand zurückgelassen wird, der allein nicht weiter kann.

2.11. Langer Marsch

Elegante Lösungen für alle Kunden sind außer Sicht. Die Verringerung von Arbeitslosigkeit verlangt Kreativität, zähe Kleinarbeit und ein Maß an Kooperation, das verdammt strapaziös ist. Keine Illusionen. Ein Langer Marsch liegt vor Dir.

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20. 04. 2024: überrascht von den anhaltend vielen Besuchen dieses angejahrten Textes habe ich meine aktuelle Sicht auf den Prozess der Globalisierung auch ins Netz gestellt:

Globalisierung andersrum


Anmerkungen

(1) Seit über fünfhundert Jahren haben sich aus anfänglich wenigen, dünnen Beziehungen immer dichtere Netze der Abhängigkeit und des Tausches zwischen Regionen und Ethnien gebildet. Nicht zu vergessen ist dabei die Rolle der Habgier, der Gewalt und der Grausamkeit. Sie waren Geburtshelfer des Weltmarkts. Erst in jüngerer Zeit hat der Prozeß der globalen Integration zivilere Formen angenommen, die freilich nach wie vor leicht in gewalttätige Auseinandersetzungen umschlagen.

Eine neue Form der Globalisierung menschlicher Beziehungen entwickelt sich seit einigen Jahren über die elektronischen Medien. Millionen Menschen aus allen Ländern der Welt kommunizieren über das Internet so, als gäbe es keine Grenzen mehr. Die Nationalstaaten reagieren auf diesen Durchbruch des Weltbürgertums mit Zensur. Unter dem Vorwand der Sittenwacht versuchen sie die anarchischen Netze "in den Griff" zu bekommen. In den USA kämpft die Electronic Frontier Foundation gegen staatliche Eingriffe in die Rechte der "Netizens".

Mit Recht wittert die nationale Staatsmacht in der beschleunigten Globalisierung ökonomischer, politischer und menschlicher Beziehungen Gefahr: die Kehrseite globaler Integration ist die nationalstaatliche Dekonstruktion. Will der Nationalstaat eine Entwicklung, die er einst selbst mit Macht, mit Imperium, betrieben hat, nun einbremsen und begrenzen, weil sie sich gegen ihn wendet? Enthüllt sich der Nationalstaat im Widerstand gegen die Globalisierung als überkommene Form der gesellschaftlichen Organisation? Gegen die Globalisierung treten jedenfalls meist besonders national gesinnte Kräfte auf: Ausländerfeindlichkeit und Protektionismus haben eine Wurzel.

(2) Karl Marx hat die Denkfigur hinter dieser Aussage so formuliert: "Daher stellt sich die Menschheit immer nur Aufgaben, die sie lösen kann, denn genauer betrachtet wird sich stets finden, daß die Aufgabe selbst nur entspringt, wo die materiellen Bedingungen ihrer Lösung schon vorhanden oder wenigstens im Prozeß ihres Werdens begriffen sind" (Marx, Karl, Zur Kritik der Politischen Ökonomie, MEW13, Berlin 1971).

März 1996


 

 
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